Bindungstherapie
In den letzten Jahren drängte sich der Begriff der Bindung immer mehr ins
Zentrum meines psychologischen Interesses. Ich habe mich darum bei PD
Dr.Karl Heinz Brisch in München in Bindungsorientierter Psychotherapie
(BPT) weitergebildet. Am Anfang der Bindungsforschung steht der englische
Kinderpsychiater John Bowlby, der 1951 für die WHO die vielbeachtete Studie
über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Zuwendung und seelischer
Gesundheit veröffentlicht hat. Bowlby hat folgende Definition geprägt: "Bindung
ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer andern spezifischen
Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet".
Der Wunsch nach Bindung wird heute als basales menschliches Bedürfnis
jenem nach Luft und Nahrung gleichgesetzt. Die primäre Bindungserfahrung
eines Menschen ist jene des Säuglings zu seiner ersten Betreuungsperson. Der
Mensch mit der grössten Feinfühligkeit in der Interaktion wird vom Kind als
Hauptbindungsperson identifiziert. Gelingt es dieser, dem Kind einen "siche-
ren emotionalen Hafen" zu bieten, entwickelt sich eine sichere innere Bindungs-
repräsentanz und damit ein Urvertrauen in die Zuwendung der Umwelt, aber
auch ein Vertrauen in sich selbst: Ich bin es wert, dass man zu mir schaut.
Wenn die empathische, feinfühlige Versorgung in den ersten Lebensjahren
unterbleibt oder nicht möglich ist, kann sich eine unsichere Bindung entwickeln.
Schicksalsschläge, Trennungen, Verluste durch Tod, Krankheiten, traumatisie-
rende Erfahrungen usw. können zu umfassenden Verunsicherungen führen.
Unsicher gebundene Menschen sind Belastungssituationen schutzloser aus-
geliefert. Ihre Stressregulation ist ungenügend und in der Folge können sich ver-
schiedenste Störungen und Krankheitsbilder entwickeln.
Darum ist die Frage nach der Bindungsqualität eines Menschen und Traumat-
as, die er im Laufe seines Lebens erlitten hat, von zentraler Bedeutung für das
Verständnis seines Leidenszustandes. Unverarbeitete Traumatisierungen der
Eltern steuern deren Bindungsverhalten und beeinflussen unbewusst das
Bindungsangebot an ihre Kinder. Auf diese Weise geschieht es, dass die Folgen
dramatischer Erfahrungen über Generationen weiterwirken.
In den ersten Lebensmonaten ist der Säugling nicht in der Lage, Stress durch
Hunger, Angst, Schmerz, Erschrecken usw. selber zu regulieren. Dadurch
wünscht sich das Kind die Nähe und allzeitige Verfügbarkeit der Hauptbind-
ungsperson und die Trennung von dieser aktiviert das Bindungsbedürfnis in
Form einer Stressreaktion. Durch die Erfahrung feinfühliger Zuwendung im
ersten Lebensjahr entwickelt das Kind in den nächsten Jahren zunehmend die
Fähigkeit, seinen Stress selber zu regulieren. Das sicher gebundene Kind wird
also fähig, sich getrennt von den wichtigsten Bezugspersonen selbständig zu
bewegen. Kinder mit einer sicheren Bindung zeichnen sich aus durch eine hohe
Resilienz, Sozialkompetenz, Kreativität und Lernleistung. Letztere steht im Zu-
sammenhang mit der von K.H. Brisch beschriebenen sogenannten Bindungs-
Explorations-Wippe. Demnach ist ein Säugling nur dann fähig, die Welt zu
erkunden, wenn das Bindungsbedürfnis beruhigt ist. Im Moment, wo es von der
Hauptbindungsperson getrennt wird, aktiviert sich sein Bindungssystem. Das
Kind gerät unmittelbar in einen Stresszustand und ist nicht mehr in der Lage zu
spielen oder die Umgebung zu erforschen.
Dieses Phänomen kann man später in allen Lebenssituationen wieder finden, wo
Leistung gefordert wird. Ein Schüler lernt besser, wenn er sich von seinem
Lehrer ermuntert und anerkannt fühlt. Ein Arbeitnehmer ist effizienter, wenn der
Vorgesetzte an ihn glaubt und seine Leistung schätzt. Unser Lebensweg ist voll
von wichtigen Bindungssituationen, wo die Bindungsqualität ihre Wirkung ent-
faltet. Zuerst sind es unsere Eltern, schnell auch unsere Geschwister, vielleicht
eine Bezugsperson in der Krippe, Familienangehörige, Lehrer, Lehrmeister,
Kollegen und Freunde, Vorgesetzte und Untergebene, mit denen wir in ein
Bindungsarrangement geraten. Bindung spielt aber auch eine Rolle beim Arzt-
besuch, in der Pflegesituation im Spital, später in der Altenpflege und letztlich
sogar in der Stunde unseres Todes.
Die Bindungssicherheit der Partner hat eine hohe Relevanz für das Verhalten
innerhalb einer Paarbeziehung. Die früheren Erfahrungen mit der Zuverlässig-
keit wichtiger Bezugspersonen steuern das Verhalten in aktuellen Beziehungen
und unsere Erwartungen an einen Partner. Der aktuelle Lebenspartner schlüpft
gleichsam in die Rolle der Hauptbindungsperson. Dies erklärt, weshalb wir so
verletzbar sind in unseren Partnerschaften. Bestimmte Verhaltensweisen können
alte negative Erfahrungen oder Traumatas triggern und unseren Organismus in
Alarmbereitschaft versetzen. Erwachsene, auch langjährige Partner, sind da-rum
immer wieder erstaunt, wie unlogisch, emotional und heftig sie in gewissen
Situationen reagieren. Das Wissen um diese Hintergründe kann sehr befreiend
wirken.
Mit den modernen Möglichkeiten der Medizin, neurologische und neuropsycho-
logische Prozesse abzubilden, ergeben sich versöhnliche Erkenntnisse. Das
menschliche Gehirn zeichnet sich durch eine hohe Neuroplastizität aus. Der
deutsche Traumaforscher Lutz Besser spricht vom Gehirn als einer Art Wachs-
tafel, die immer wieder neu gestaltet werden kann. Wir können also darauf hof-
fen, dass traumatische Erfahrungen, Vernachlässigung und Deprivation, welche
in unserem Gehirn ihre neurologischen Spuren hinterlassen haben, korrigier-
bar und bewältigbar sind. K.H. Brisch belegt mit bildgebenden Verfahren, dass
sich die Gehirnaktivitäten von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen
nach einigen Monaten intensiver, feinfühliger Betreuung und emotionaler
Koregulation sichtbar verändern. Auch die Stressregulationsfähigkeit eines
Menschen lässt sich in späteren Lebensjahren noch erweitern.
„Mit einer sicheren Bindung werden
die Eltern grosse Freude an ihrem
Kind haben, weil sicher gebundene
Kinder eine bessere Sprachentwick-
lung haben, flexibler und ausdauern-
der Aufgaben lösen, sich in die Ge-
fühlswelt von anderen Kindern besser
hineinversetzen können, mehr Freund-
schaften schliessen und in ihren Be-
ziehungen voraussichtlich glücklichere
Menschen sein werden.“ (K.H. Brisch)
Dr. med. habil. Karl Heinz Brisch ist
Univ.-Prof. an der Paracelsus Medizi-
nischen Privatuniversität (PMU) in
Salzburg. Er leitet den weltweit ersten
Lehrstuhl für Early Life Care. Sein
Forschungsschwerpunkt umfasst den
Bereich der frühkindlichen Entwicklung
zu Fragestellungen der Entstehung
von Bindungsprozessen und ihren
Störungen.
Dr.Brisch bietet in München eine Wei-
terbildung in bindungsorientierter Be-
ratung und Bindungspsychothera-
pie an (khbrisch.de) .
Eines seiner grossen Anliegen ist die
Ausbildung junger Eltern hinsichtlich
eines bindungsfördernden Umgangs
mit ihren Kindern. Das Programm
SAFE (sichere Ausbildung für Eltern)
erfreut sich zunehmender Verbreitung.